Benjamin Frech
Einführung
Sehr geehrter Herr Hillenkamp,
sehr geehrter Herr Bürgermeister Dr. Gerner,
liebe Mit-Juroren,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
wie jedes Jahr haben wir uns erneut versammelt, um ein literarisches Werk zu ehren, dessen Auszeichnung am Ende einer einjährigen Wanderung vieler Beteiligter uns heute hier zusammen führt. Einer Wanderung durch die Essayistischen Landschaften der neusten deutschen Literatur, auf einem Weg, den auch ich ein Stück mitgehen durfte.
Dieser Preis, in Erinnerung an Clemens Brentano, wird in Zusammenarbeit der Stadt Heidelberg und dem germanistischen Seminar der Universität vergeben und stellt dabei deutschlandweit einmalig nicht nur eine Chance für junge und förderungswerte Autoren, sondern auch für Studenten, dar. Sie bekommen die Möglichkeit, in Form eines Seminars unter der Leitung von Frau Doktor Kopp-Marx und Frau Doktor Reents einen Teil der Vorarbeit zu leisten und durch Diskussionen und Präsentationen die Literaturkritik in der Anwendung kennenzulernen.
Ein solches Seminar ist eine Erfahrung, die sich gut mit einem Essay vergleichen lässt. Entsprechend Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, kann man das Essayistische mit einem Gang um eine Statue beschreiben, bei der man sie von allen Seiten betrachtet. In der Diskussion innerhalb des Seminars hob sich jedes Buch aus der Eindimensionalität unseres eigenen Eindrucks und gewann durch jeden Beitrag an Körperlichkeit. Oft wurde man dabei überrascht davon, was sich mit Hilfe so vieler Leser auf den Seiten noch verbarg. Es war mit einer eigentümlich-schwebenden Spannung verbunden, zu sehen, wie ein Werk plötzlich freundlicher oder fremder wurde und sich stetig wandelte. Man konnte mit seiner Auffassung Erfolge feiern oder auch bitter erkennen, dass man mit seiner anfangs gebildeten Meinung nicht immer recht hatte.
Sven Hillenkamps romanhafter Essay bescherte den Teilnehmern die wohl lebendigste Sitzung des Semesters, und das nicht zuletzt deshalb, weil er jeden einzelnen von uns direkt anspricht. Man ist Leser und gleichzeitig Held seines Buches, denn wie für den freien Menschen sich die Möglichkeiten aus der Masse schälen, so schimmert auch immer wieder das eigene Spiegelbild zwischen den Zeilen auf, sodass niemand ohne Meinung bleiben kann. Er hat die Unbeständigkeit einer Zeit erfasst, die sich nach Beständigkeit sehnt. Er hat die Vermassung beschrieben, in der jeder nur Einzeln sein will. Wie kleine Kinder greifen die Menschen in Hillenkamps Buch nach allem, was durch unsere geschrumpfte Welt in Reichweite gekommen ist, um es dann wieder fallen zu lassen, weil eine andere Möglichkeit noch heller und trügerischer leuchtet. In diesen Möglichkeitsmenschen, die Sven Hillenkamp uns vorstellt, erkenne ich eine Generation, der man gerade noch so angehört und die man doch auch mit etwas Abstand betrachtet. So wie ich zum Beispiel verwundert die verYoutubten und Facebookisierten Jugendlichen beobachte, die mir in den Bahnen und Bussen begegnen, immer öfter den neusten Internet Klatsch und Tratsch auf den Lippen. Auch in Bussen und Bahnen sind die freien Menschen gedanklich immer vernetzt mit dem Parallelleben. Und halten mir einen Spiegel vor. Weil ich selbst einer von ihnen bin. Eine Erkenntnis die reifen musste. Denn gerade weil ein Essayistisches Werk, wie es hier vorliegt, auch immer eine Suche nach einer Wahrheit ist, wurde bei uns um Hillenkamps Buch heftig gestritten. Ging es doch nicht nur darum ob es gefallen hat, sondern auch darum, ob es jene Möglichkeitswelt, von der er spricht, in ihrer Drastik auch wirklich geben könne. Ob man gar selbst ein eingebildet freier Mensch sei, in der Masse aus Möglichkeiten. Vermeintlich frei fühlen sich wohl auch jene von mir beobachteten jungen Menschen, auch sie meinen die Wahl zu haben und erliegen gerade dadurch der Tyrannei des Ichs. In ihnen mich selbst erkennend, versuche ich mich anderer Zeiten zu entsinnen und seufze über die vernetzte Populärkultur von heute. Wende mich also von der Gegenwart ab und einer nicht allzu fernen Vergangenheit zu. So sehe ich auch die Reaktion Sven Hillenkamps. Die Möglichkeitswelt kontrollieren, indem man sich ihr entzieht. Seine Vernunftehe, die den rasanten Entwicklungen unserer Internetgesellschaft entgegengestellt wird, impliziert die gleiche nostalgische Wehmut in einer kulturgeschichtlichen Rückbesinnung auf Vergangenes. Wie auch sein Essay sich heimlich an das Romanhafte schleicht.
Mit dem Buch „Das Ende der Liebe“ wurden am Ende des Semesters drei aus jener hillenkampschen Masse (Lukas Ofer, Matthias Slunitschek und Ich) von den Seminarteilnehmern ausgewählt, ihre Meinung in der Jurysitzung zu vertreten. Für mich ein beeindruckendes Ereignis, denn zusammen mit drei Profi-Juroren galt es nun erneut, die essayistischen Perspektivenwechsel zu vollführen und die erwählten Bücher-Statuen noch genauer zu betrachten. Eine Erfahrung, für die ich sehr dankbar bin, denn wann hat man schon die Möglichkeit, als Student derart an einem literaturkritischen Prozess beteiligt zu sein. Mein Dank gilt an dieser Stelle den Profi-Juroren, Ursula März, Marius Meller, Burkhard Spinnen und dem Leiter und Moderator Uwe Kossack. Sie schenkten unseren Argumenten ein aufmerksames Ohr und schufen eine Atmosphäre, in der leidenschaftlich auf einer Augenhöhe diskutiert werden konnte.
Das Ergebnis dieses lebendigen Diskurses kennen Sie alle. Der Hydra, wie sie in Sven Hillenkamps Buch auftaucht, haben wir ein Haupt abgerungen. Und kein Ort scheint passender als Heidelberg, mit seinen romantischen Fassaden und den dahinter emsig Wahrheit suchenden Wissenschaften, um diesen Essay auszuzeichnen. Das Werk eines Mannes, dem ich aufgrund seiner Kindheit in Bonn, Paris und Genf, wegen seiner wandlungsreichen Beiträge für verschiedenste Zeitungen und Zeitschriften und seinen von den Großstädten Berlin nach Stockholm stetig wechselnden Heimathäfen, kurzum wegen seiner stetigen Beweglichkeit also eine innere Vielköpfigkeit attestiere, die ihn befähigte, den Menschen und seine Gesellschaft zu belauern und mit diesem wichtigen Buch ein Denkmal zu setzen. Ein Buch, das es einem nicht einfach machen will, in dem man aber nicht nur Facetten von sich entdeckt. Sondern das vielmehr der Welt mit einem essayistischen Skalpell ein Stück Wahrheit herausschneidet und auf das meines Erachtens auch deshalb die Wahl gefallen ist. Weniger eine Vernunftehe Herr Hillenkamp, eher eine Liebesheirat. Herzlichen Glückwunsch an Sie.
Rede des studentischen Jurors Benjamin Frech anlässlich der Verleihung des Clemens Brentano Förderpreises für Literatur der Stadt Heidelberg 2010 am 20. Juli 2010 an Sven Hillenkamp