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Der Wahrheit auf die Spur kommen

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller und Regisseur Benjamin Korn

Matthias Schubert: Ihr erster großer Essay in der „ZEIT“ erschien im Jahr 1988; ein Text über die Fassbinder-Affäre, der für Sie sicher sehr zentral ist. Sie probierten am Frankfurter Schauspiel den „Don Juan“ und gerieten mehr oder weniger versehentlich in die Kontroverse um die Aufführung von „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Sie schildern eindrucksvoll den Moment, in dem Sie am Abend der geplanten Premiere auf einem Monitor unter den Demonstranten im Theater Ihre Mutter erkannten. Könnten Sie etwas über die Entstehung des Textes sagen?

Benjamin Korn: Als ich den Essay mit dem zeitlichen Abstand von drei Jahren schrieb, wußte ich nicht, daß dies der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Essays werden würde. Ich hatte zu-nächst nur das Bedürfnis, mir diese Affäre, deren Zeuge ich geworden war, vom Herzen zu schreiben. In ihr konzentrierten sich viele der Probleme, die mir seit der Kindheit in Deutschland begegnet waren. Es war eine einzigartige Verknotung meiner künstlerischen, sozialen und familiären Biographie. Der Aufsatz ist ein Versuch, diesen Knoten im nachhinein zu entwirren. Er war aber auch der kathartische Versuch, mir das eigene Verhalten während der Affäre, das ich nachträglich für falsch hielt, von der Seele zu schreiben. Ich hätte damals nicht nur als Zeuge dabei sein dürfen, ich hätte eingreifen müssen.

Matthias Schubert: Eingreifen in welcher Weise? Sie schreiben in dem Essay sinngemäß: „Ich hätte die Wahrheit sagen können, ich habe mich nicht getraut“. Was wäre die Wahrheit gewesen?

Benjamin Korn: Ich war an dem Abend der Aufführung, die durch die Bühnenbesetzung nicht zustande kam, der einzige, der wußte, wie die verschiedenen Parteien empfanden, und der vielleicht die Kluft zwischen ihnen hätte überbrücken können. Ich war in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt aufgewachsen, wußte, was sich aktuell in ihr abspielte; ich inszenierte selbst an dem Theater und kannte die Schwierigkeiten der Fassbinder-Produktion. Ich hätte womöglich allen, die versammelt waren, erklären können, worum es eigentlich geht. Ich hätte diesen manichäistischen Starrkrampf lösen können – es war für mich eine verpaßte Chance.

Matthias Schubert: Ihr Essay zeigt indessen auch, daß einem in einer solchen Situation nicht alle Worte und Ge-danken zur Verfügung stehen. Daß die Zurückhaltung vielleicht nicht nur aus Feigheit resultier-te…

Benjamin Korn: Das ist wohl wahr, ich glaube daß ein Mensch in einer solchen Situation sehr viel Mut braucht, weil es ja nicht allein um den Mut geht, etwas zu sagen. Es hängen noch ganz andere Dinge daran. Man ist zum Beispiel an einem Theater engagiert… Es war ein Stück sozialer Feigheit dabei, ein Stück Vertragserfüllung. Eine Schwäche, die ich in meinen Aufsätzen anderen vorwerfe: Ich hätte jene Courage aufbringen müssen, die ich sonst einfordere. Doch war ich der Situation nicht gewachsen. Wenn sich eine solche Situation nochmals ergeben sollte, hoffe ich, andere reagieren zu können.

Matthias Schubert: Der Essay endet mit einem Absatz, in dem Sie davon sprechen, daß die Grenze zwischen Gut und Böse in jedem einzelnen und nicht zwischen Völkern verlaufe. Das ist die Perspektive, aus der heraus Sie moralische Konflikte zu beschreiben, auch zu lösen versuchen.

Benjamin Korn: Eine Frage, die mich schon immer beschäftigt, ist die, warum Menschen am meisten auf das stolz sind, wofür sie am wenigsten können. Auf das Land, in dem sie geboren sind, auf die Religion, die ihnen vermittelt wurde, auf die Hautfarbe, mit der sie auf die Welt kamen. Auf all die Dinge, die durch den Zufall der Geburt gegeben sind. Für mich ist das rassistische Vorurteil eine Deformation der Menschennatur, eine Schwäche seines Verstandes. Das Ende meines Aufsatzes signalisiert, daß für mich jeder nur als Individuum gilt. In meinem Essay über Celine habe ich geschrieben, daß ich es für unmöglich halte, ein Urteil über eine Nation, eine Gruppe, eine Familie zu fällen. Man kann Urteile – und auch das nur mit Vorbehalt – immer nur über einzelne Menschen treffen. Mit Vorbehalt deswegen, weil man sich selbst in der Regel zu positiv beurteilt gegenüber dem anderen.

Matthias Schubert: In der Tat spielen Individuen in Ihren Texten die Hauptrolle, doch gibt es auch Beobachtungen, die das Kollektive betreffen. Von Deutschland etwa sagen Sie, es sei ohne „Maß und Mitte“. Ein Thema, das Sie nicht losläßt.

Benjamin Korn: Der Satz bezieht sich auf das deutsche Volk, hat aber historische Gründe. Es steckt nicht in der Natur der Deutschen. Ohne Maß und Mitte: das ist das Drama der Deutschen, niemals fünfzig Jahre hintereinander die gleichen Grenzen gehabt zu haben – wie es etwa in Frankreich seit Ludwig XIV. der Fall ist. Deutschland ist ein zellartiges Gebilde, das aus Zellteilungen und Zellzusammenschlüssen besteht; selbst die Form, die es jüngst angenommen hat, hatte es vorher nie gehabt. Das schlägt sich nieder in der seelischen Landschaft der Bewohner. Was eine Nation ausmacht, färbt auf die Individuen ab.

Matthias Schubert: Sie haben auch von der fehlenden Distanz der Deutschen sich selbst gegenüber geschrieben, was Sie von Frankreich aus vermutlich noch viel genauer sehen.

Benjamin Korn: Der Mangel an Maß und Mitte kommt auch in einer anderen Hinsicht zum Tragen. Der zweite Weltkrieg und der Genozid sind Geschehnisse, die ein Volk so schnell nicht „verdauen“ kann. Das begreifliche Schuldbewußtsein in Deutschland mußte wohl das Ausmaß haben, das die Katastrophe hatte. Aber dieses Schuldgefühl hat mit der Zeit wiederum den Blick verstellt. Bei den Verbrechen handelte es sich nicht um eine Erbsünde, eine Schuld von Natur aus. Schuld sind nur diejenigen, die die Verbrechen begangen haben; schließlich wird vor Gericht auch nicht der Sohn eines Mörders beschuldigt, sondern allein der Mörder selbst. Diese völlige Verwischung der Begriffe hat zu einem gefährlichen Syndrom in Deutschland geführt, nämlich dem, daß sich die Kinder der Mörder für ihre Väter schuldig fühlen und die Kinder der Opfer für ihre Eltern unschuldig. So wurde der Krieg in die zweite und dritte Generation psy-chisch weitergetragen, obwohl in der Realität dafür kein Anlaß besteht.

Matthias Schubert: Sehen Sie Anhaltspunkte, daß es möglich wird, sich jenseits der vererbten Täter- und Opferrollen zu begegnen. In Ihrem jüngsten, noch unveröffentlichten Essay, in dem Sie auch auf die Diskussionen um das Holocaust-Denkmal in Berlin eingehen, klingt da Skepsis an.

Benjamin Korn: Ich habe das Gefühl, daß, sooft Juden und Deutsche miteinander sprechen, immer nur gelogen wird – sehr gute Freunde vielleicht ausgenommen. Die Leute legen das, was wirklich in ihnen vorgeht, nicht auf den Tisch. Das Tabu ist von einer derart vernichtenden Kraft, daß es zu einer Aufrichtigkeit nicht kommt. Über dem Tisch wird gelächelt, unter dem Tisch getreten. In der Diskussion über das Denkmal in Berlin überwiegen Höflichkeit und Verlogenheit. Solange es keine offene Diskussion gibt, kann es auch keine Lösung geben. Deshalb war ich seinerzeit ja auch für die Aufführung des Fassbinder-Stücks. Man kann der Wahrheit nicht durch Verbote auf die Spur kommen. Statt über das Stück und seine Inhalte zu reden, hat man es unterdrückt. Und diese Unterdrückung, die übrigens seit zehn Jahren andauert, tut dem Dialog zwischen Juden und Deutschen überhaupt nicht gut. Das Verbot was das Schlimmste, was man tun konnte.

Matthias Schubert: Ein anderes wiederkehrendes Thema in Ihren Essays, betrifft das Verhältnis von Talent und Charakter. Goethe hat in ihren Augen in Deutschland die Weichen dafür gestellt, daß Kunst und Moral auseinanderfallen konnten. Sie zeigen das im 20. Jahrhundert an exponierten Beispielen: Celine, Jünger, Benn.

Benjamin Korn: Es hat mich stets zutiefst erschüttert, wenn ich las, ein Lieblingsdichter von mir habe zum Mord aufgerufen, einer faschistischen Partei angehört, sich einer nationalistischen Bewegung angeschlossen. Ich ging in idealistischer Weise davon aus, daß ein Mensch, der Kunst macht, eine Vorstellung von einer Welt haben müsse, die besser ist als diejenige, auf der wir leben. Mir wollte nicht in den Kopf, daß ein solcher Mensch parallel zu seiner Kunst zu den schlimmsten Verbrechen fähig sein könnte. Das ging bei Gottfried Benn los, setze sich bei Pirandello, diesem großartigen italienischen Theaterautor, fort. Mein Essay über Celine ist – zusammen mit dem Text „Bald Schwein, bald Schmetterling“ – so etwas wie die Quintessenz dieser Erfahrungen.

Matthias Schubert: Sie sprechen selbst von einer idealistischen Position. Zudem greifen Sie mit Ihren Aufsätzen relativ spät in eine Diskussion ein, die ja eigentlich das ganze Jahrhundert berührt, die Irrtümer dieser Schriftsteller sind unter verschiedensten Gesichtspunkten thematisiert worden.

Benjamin Korn: Vielleicht schwingt da auch eine Selbstkritik mit. Ich war ja selbst Idealist, habe – als ich in der Studentenbewegung war – selbst geglaubt, daß man die Welt verändern könne. Das ist eine absolute Schnapsidee. Das seelische Kostüm der Menschen ist über Jahrtausende gleich geblieben, und alle Versuche, es zu verändern, haben ja nur zu Katastrophen geführt, zu einer wachsenden Brutalisierung dieser Menschen, die man versucht hatte zu erziehen. Ich habe eine Wendung gemacht. Zwar glaube ich nach wie vor, daß die Welt ungerecht organisiert ist, nur glaube ich nicht mehr, daß sich dies ändern läßt. Statt Theorien über die Welt zu verbraten, sollte man das in seiner Macht Stehende tun. Wer in seiner unmittelbaren Umgebung etwas bewegt, der hat schon viel erreicht.

Matthias Schubert: Dennoch argumentieren Sie in Ihren Aufsätzen dezidiert moralisch. Was ist die Quelle dieser Moral, die auf eine Besserung der Welt nicht mehr setzt.

Benjamin Korn: Ich frage mich in der Tat, wie es kommt, daß ein Mensch, der davon überzeugt ist, daß man die Welt nicht verändern kann, doch ständig von nichts anderem träumt. Womöglich ist genau dies die Spannung, in der der Mensch zur Welt und zu sich selbst steht: wider besseres Wissen von diesem Wunsch nicht lassen zu können. Sie mögen es eine Komödie nennen oder eine Tragödie; das hängt wahrscheinlich von der Laune ab, in der man sich befindet. Aus der Ferne betrachtet ist es komisch aus der Nähe manchmal tragisch – aber das ist bekanntlich ja auch der Unterschied zwischen Komödie und Tragödie.

Matthias Schubert: Damit liefern sie ein wichtiges Stichwort. Zwei Strategien, diesem Widerspruch standzuhalten und trotzdem eine moralische Position aufrecht zu erhalten, sind für Sie das Mitleid und das Lachen. Sie beziehen sich häufig auf die Katharsis, nicht nur im Theater, in der Kunst. Sie sehen darin eine Kraft, die den Menschen nicht dauerhaft bessert, wohl aber läutert, befreit.

Benjamin Korn: Die berühmten Misanthropen wie etwa Rousseau und Schopenhauer haben das Mitleid als das einzige Wundmittel gegen die Bösartigkeit der Welt ins Feld geführt. Scho-penhauer, der weit davon entfernt war, im Menschen ein gutes Wesen zu sehen, ihn vielmehr für ein bösartiges Tier hielt, hat sich gefragt, warum es Menschen gibt, die in einen Fluß sprin-gen, um unter Einsatz ihres eigenen Lebens eine wildfremde Person zu retten. Dieser einfache Tatbestand paßte nicht in seine Theorie. So erklärte er das Mitleid zu einem metaphysischen Phänomen. Woher kommt diese Kraft? Auch wenn das Mitleid auf politische Entscheidungen keinen Einfluß hat, denn diese haben andere Motoren, so scheint es das Leben doch erst le-benswert zu machen.

Matthias Schubert: Das zweite Wundmittel ist das Lachen. In einer Kolumne mit dem Titel „Zwei weinende Au-gen“ weisen Sie darauf hin, daß Deutschland keinen Komödienschreiber von Rang hervorge-bracht hat. Tun wir uns mit dem Lachen schwer?

Benjamin Korn: Es ist wahr, daß es in Deutschland – anders als in Italien und Frankreich – keine großen Komödienschreiber gibt. Sicherlich, weil die Komödie, weil das Lachen mit Distanz zu sich selbst zu tun hat. Molière findet sich bekanntlich im Geizigen, im Menschenfeind, in allen seinen Gestalten wieder. Um lachen zu können, darf man sich selbst nicht zu ernst nehmen. Im übrigen hat Lachen auch einen kathartischen Effekt. Sie selber merken ja, daß Sie sich, wenn Sie viel gelacht haben, erleichtert fühlen, wie von einer Last befreit. Lachen ist immer mit einer Erkenntnis verbunden, einem Entknotungsvorgang. Vielleicht ist es nichts anderes als die physische Begleiterscheinung dieses Vorgangs.

Matthias Schubert: Ihr Buch „Kunst, Macht und Moral“, das im Sommer erscheinen wird, schließt mit einem Text, der „Die manichäistische Falle“ überschrieben ist. Was hat es mit dieser Falle auf sich?

Benjamin Korn: Ich habe beobachtet, daß fast alle Menschen, aber natürlich auch Parteien und Religionen, die Tendenz haben, die Welt in Gut und Böse aufzuteilen und sich selbst zu den Guten zu rechnen. Diese Neigung hat mit der Begrenztheit des Individuums zu tun. Jeder von uns hält sich für den Mittelpunkt der Welt, und die Welt ist ein Perpetuum mobile, das sich um uns herumbewegt. Weil jeder alleine lebt und alleine stirbt, ist das Außen nur von geringem Interesse, stehen wir den Problemen anderer relativ gleichgültig gegenüber. Wir sind außerstande, uns in die Motive anderer einzufühlen, von uns selbst abzusehen. Dabei sind wir für den anderen dasselbe, was dieser für uns ist. Die manichäistische Falle besteht darin, daß man in diesem Bewusstsein stecken bleibt. Man braucht sehr viel Distanz und Humor, um sich gleichsam vom Mond her betrachten zu können.

Matthias Schubert: Das klingt wie die Aufforderung, sich auf einen hermeneutischen Prozeß einzulassen. In einem Gespräch, wie Gadamer es schlicht sagen würde, relativiert man die eigene Position, lernt die eines anderen kennen und bezieht diese in das eigene Denken, in die eigene Positionierung ein.

Benjamin Korn: Das wäre wünschenswert. Aber meistens ist es doch so, daß die Menschen im Gespräch nur wiederfinden, was sie vorher schon gewußt haben und ihr einziges Bestreben danach geht, den anderen auszustechen, die Oberhand zu behalten. Es ist sehr selten, daß man Menschen findet, die mitten im Gespräch bereit sind, eine Kehrtwendung zu vollziehen und genau das Gegenteil von dem zu behaupten, was sie eben noch gesagt haben. Dazu braucht man wahrscheinlich sehr viel Demut und Seelenstärke.

Das Gespräch mit Benjamin Korn führte Matthias Schubert am 7. März 1998 in Paris


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