Geschlechterrollen

und Lebensperspektiven

"Eine Herausforderung für die Schule!"
Gemeinsame Fachtagung des Staatlichen Schulamts und der Stadt Heidelberg am 12. November 2002

Bürgermeister a.D. Dr. Jürgen Beß (Foto: Stadt Heidelberg)

Begrüßung

Frau Schulamtsdirektorin Groß, Frau Regierungsschulrätin Kerth, meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich freue mich, dass wir Sie mit dem Angebot dieser ersten gemeinsamen Fachtagung des Staatlichen Schulamtes und der Stadt Heidelberg neugierig machen konnten und ich Sie hier in diesen schönen Räumen begrüßen darf.

Früchte einer schon länger andauernden guten Zusammenarbeit

Ich freue mich ebenso, dass wir heute gemeinsam die Früchte einer schon länger andauernden guten Zusammenarbeit ernten können zwischen der Leiterin des Amtes für die Gleichstellung von Frau und Mann der Stadt Heidelberg, Frau Domzig, der Frauenvertreterin des Staatlichen Schulamtes, Frau Martin-Kröger und einer Arbeitsgruppe aus Schulleitungen sowie Lehrerinnen und Lehrern, an der auch Frau Groß zeitweise persönlich beteiligt war.

Die Bedeutung der Geschlechterrollen für die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler

Wir profitieren jetzt davon, dass in diesem Kreis mit großem Engagement daran gearbeitet worden ist, aus einer ungewohnten Perspektive auf das Schulgeschehen zu schauen. Erstmalig in einem solchen Rahmen wird unser Blick auf die Bedeutung der Geschlechterrollen für die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler gelenkt und ihre Möglichkeiten in einem eigenständigen Leben erfolgreich Fuß zu fassen.

Keine Frage: wir haben in unseren Schulen keine Neutren sondern Mädchen und Jungen, die sich zu Frauen und Männern entwickeln wollen. Der Umgang mit den eigenen körperlichen und seelischen Veränderungen, mit Geschlechtlichkeit überhaupt, die Erwartungen an das andere Geschlecht, die damit verbundenen Zukunftsbilder und Wertehorizonte, sind Themen von ganz elementarer Bedeutung für alle Heranwachsenden.
Bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen werden wir nicht nur auf eine Menge Energie und Interesse stoßen, wir begeben uns außerdem auf ein Terrain, das unübersichtlich und spannungsgeladen für die jungen Leute ist. Mädchen und Jungen wollen und sollen - nicht selten als Eingewanderte in zwei Kulturen lebend - in einem Wirrwarr sich wandelnder Geschlechtsrollenanforderungen ihren Weg finden. Einerseits haben die alten Rollenzuweisungen an Bedeutung eingebüßt, andererseits spielt das Einfordern dieser Normen sowohl unter Jugendlichen als auch durch die Erwachsenen eine große Rolle. Wohin führt aber dieses Einfordern alter Rollenbilder und wie könnten heute angemessene aussehen?

Wer hinschaut, dem wird auffallen, dass wir uns immer noch mit geschlechtertypischen Lebenslagen bei Mädchen und Jungen auseinandersetzen müssen, die ebenso typische Problemlagen zur Folge haben.

Jungen haben mehr Konflikte

Die neueste Shellstudie zur Jugend und der letzte Gesundheitsbericht des Gesundheitsamtes Rhein-Neckar belegen, dass Jungen während der Schulzeit durch ungünstigeres Lernverhalten und deutliche Aufmerksamkeitsstörungen auffallen. Sie haben mehr Konflikte mit dem Lehrpersonal und Gleichaltrigen und zeigen auch ein höheres aggressives und delinquentes Verhalten.

Ihre Eltern sind häufiger unzufrieden mit ihren Schulleistungen und sie beanspruchen doppelt so häufig professionelle Hilfe im Vergleich zu Mädchen. Jungen stellen den größten Anteil unter denen, die sitzen bleiben und bei den Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss. Ihr Anteil an Hauptschülern wächst insgesamt.
Nach der jüngsten Shell-Studie gehören deutlich mehr Jungen zur Gruppe der Pessimisten, die mit folgenden Merkmalen charakterisiert wurde:

Demonstrieren von (zumindest äußerlicher) Stärke und Ellbogenmentalität, (bewusstes) Übertreten sozialer Regeln und Übereinkünfte, Ablehnung von sozial Schwachen oder Randgruppen, Neigung zu Aggressivität und politischem Radikalismus.

Mädchen scheinen eher unauffällig und gut angepasst

Erscheinen Mädchen im Schulalltag eher unauffällig und gut angepasst, treten charakteristische Schwierigkeiten nach dem Schulabschluss auf.

Vor allem Haupt- und Realschülerinnen weichen von ihrer zunächst geplanten dualen Berufsausbildung häufig auf eine schulische Berufsausbildung aus. Damit ist das Risiko, ohne Ausbildungsstelle zu bleiben, bei jungen Frauen größer als bei jungen Männern. (Shellstudie 2002)

Mädchen wählen sogenannte typische Frauenberufe mit der Folge geringerer bzw. gar keiner Ausbildungsvergütung, häufiger zusätzlicher Kosten für den Besuch beruflicher Schulen und sie schaffen damit schlechtere Startbedingungen für den Eintritt in die Berufstätigkeit. Auszubildende im dualen System haben die größten Chancen auf eine Übernahme - oder auf Vermittlungsangebote (Shellstudie 2002).

​​​Junge Frauen sind signifikant häufiger in unteren und mittleren Einkommensgruppen vertreten

In der Folge sind junge Frauen signifikant häufiger in unteren und mittleren Einkommensgruppen vertreten und haben Schwierigkeiten bei der Sicherung eines eigenständigen Einkommens, was sich auch auf die Alterssicherung auswirkt. Nach der jüngsten Studie von Michael Erler über Armut in Deutschland beziehen mehr Frauen als Männer Sozialhilfe. Besonders betroffen ist die wachsende Zahl der alleinerziehenden Frauen.

Diese Schwierigkeiten hängen nicht zuletzt mit den hohen persönlichen Einsatz von Frauen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zusammen. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass Frauen dem unverkennbaren Druck, die traditionelle Rolle bei der Familienversorgung zu übernehmen, in dem Maße weniger gut ausweichen können, wie sie nur wenig zum Familieneinkommen beisteuern können. Oder, wenn sie die Anpassung an traditionelle typische Erwartungen für die Währung halten, die zu bezahlen ist, um sich geborgen zu fühlen oder für das Gefühl, begehrt zu sein. In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass Frauen häufiger Opfer von Gewalt in Beziehungen sind.

​​Auseinandersetzung mit den Geschlechtsrollen im pädagogischen Alltag

 Kann eine Auseinandersetzung mit den Geschlechtsrollen im pädagogischen Alltag wichtige Beiträge schaffen, um diese Probleme abzutragen? Kann eine frühzeitige Auseinandersetzung mit Lebensentwürfen und Berufswünschen helfen, die Persönlichkeit zu stärken und eine wirkliche Integrationsfähigkeit zu erhöhen?

Wir haben es hier ganz offensichtlich mit einem Thema zu tun, dem wir uns nicht entziehen können und dem wir uns auch nicht entziehen wollen. Darum freue ich mich, dass es diese Initiative zu der heutigen Fachtagung gegeben hat. Wir können sie nutzen, um uns tiefer in dieses Aufgabengebiet hineinzudenken und von den bereits gemachten Erfahrungen anderer profitieren. Es ist, wie ich finde, ein spannendes Programm entstanden:

Die bekannte Buchautorin und Leiterin der Ludwig-Bolzmann-Forschungsstelle in Wien, Frau Dr. Edit Schlaffer, stellt im Hauptvortrag ihre Forschungsergebnisse zur Situation von Mädchen und Jungen vor und steht im anschließenden Forumsgespräch für Fragen der praktischen pädagogischen Umsetzbarkeit der neuen Einsichten zur Verfügung.

Wichtiger Beitrag für den Schulalltag

In anschließenden Workshops können wichtige Aspekte des Themas vertieft werden und besteht die Möglichkeit, schon bestehende Angebote innerhalb und außerhalb der Region kennen zu lernen.
Auch ich verspreche mir von dieser Tagung viele gute Anregungen für den Schulalltag. Ich meine, wir müssen möglichst viele Impulse nutzen, um Mädchen und Jungen die nötigen Voraussetzungen zu geben, eine stabile eigene Existenz aufzubauen. Dieser neue Ansatz scheint mir ein wichtiger Beitrag zu sein.

Ich wünsche allen eine erfolgreiche und interessante Tagung.

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