Geschlechterrollen

und Lebensperspektiven:

"Eine Herausforderung für die Schule!"
Gemeinsame Fachtagung des Staatlichen Schulamts und der Stadt Heidelberg am 12. November 2002

Dörthe Domzig, Leiterin des Amts für Chancengleichheit (Foto: Stadt Heidelberg)

Begrüßung

Frau Schulamtsdirektorin Groß, Frau Regierungsschulrätin Kerth, Herr Bürgermeister Dr. Beß, meine sehr verehrten Damen und Herren,
zunächst einmal möchte ich mich ganz herzlich bei allen Kooperierenden für das Zustandekommen dieser Fachtagung bedanken, insbesondere für das unbürokratische Entgegenkommen und die Offenheit von Frau Groß und natürlich auch für das unglaubliche Engagement des vorbereitenden Arbeitskreises, besonders von Frau Martin-Kröger.

Was habe ich mit dem Ganzen zu tun und warum rede ich hier?

Ich möchte Sie mit meiner Rede für ein Thema interessieren, dessen Akzeptanz doch ziemlich starken Schwankungen erfährt: Die sogenannte Geschlechterfrage.
Ich möchte Sie für das Abenteuer begeistern, dass es bedeuten kann, sich auf dieses Thema einzulassen und auch dafür, die Schätze zu erkennen die auf diese Weise zu bergen sind. Denn die Geschlechterthematik ernsthaft aufzugreifen heißt, Möglichkeiten aufzugreifen und gute neue Ansatzpunkte für die Bearbeitung zentraler Probleme einsetzen zu können.

Worum geht es eigentlich?

Niemand wird in unserer Kultur der Frage ausweichen können,
"Bist du eine Frau oder ein Mann, bist du ein Mädchen oder ein Junge?"
Es ist unmöglich, ein geschlechtsneutrales Leben zu führen. Und es ist eine Frage, die jede Person im Innersten berührt.
Wir sind es schon lange gewöhnt, ohne nachzudenken sowohl für uns selbst als auch für andere Antworten darauf parat zu haben, was es denn bedeutet, ein Leben als Frau und als Mann zu führen.
Nicht nur dass wir wissen, wie wir uns zu kleiden haben. Sie brauchen sich nur umzuschauen: bei Männern heißt das gewöhnlich, auf keinen Fall einen Rock oder ein Kleid und unbedingt keinen Nagellack oder Lippenstift zu tragen. Dinge, die wir bei Frauen für ganz normal halten.

Wir wissen bis hin zu Details der Körperhaltung, wie Frauen und Männer sich verhalten müssen. Dieses Phänomen ist nicht nur vielfach dokumentiert, es fällt Ihnen sicher selbst sofort auf, wenn Sie eine Gruppe Menschen - am besten ohne Tische vor sich - beobachten. Z.B. werden Sie freundliche Zurückhaltung eher bei Frauen diagnostizieren und eine launige Siegerpose häufiger bei Männern finden, auf jeden Fall nicht so viel Weiches.

Das konnte ich unlängst wieder auf einer Dienstreise mit einer größeren Gruppe von Frauen und Männern bestätigt finden. Eine der häufigsten gegenseitigen Veräppelungen in einer Gruppe von Männern war (da sage ich Ihnen sicher nichts Neues!), du "Weich-Ei" und du "Warm-Duscher".

Wenn wir genau hinsehen, ist das Prinzip, nachdem wir verfahren, wenn wir Weibliches und Männliches unterscheiden, ergreifend einfach. Das Männliche muss sich jeweils im Gegensatz zum Weiblichen behaupten und umgekehrt. Wir verfolgen ein gegensätzliches, sich voneinander ab- und ausgrenzendes Prinzip, dass konsequenter Weise auch ein Verhältnis von Überordnung und Unterordnung enthält.

Wir tun dies nicht immer nur, um in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wir tun das oft genug, ohne genau hinzugucken, wie die einzelnen Menschen und ihre Lebensverhältnisse wirklich sind.

Natürlich ist dieses Prinzip nicht das einzige, das das Geschlechterverhältnis strukturiert. Aber es ist ein sehr wirkungsvolles und wir benutzen es immer wieder, in allen möglichen Lebenssituationen.

Ein Blick nach Schweden:

 Selbst in einem so aufgeklärten Land wie Schweden melden die Statistiken aus dem Jahr 2002 folgendes:

  • Lehrer und Lehrerinnen wenden sich mehr als doppelt so häufig an Jungen wie an Mädchen.
  • Jungen werden fast 3x so häufig mit ihrem eigenen Namen angesprochen.
  • Mädchen bekommen deutlich weniger begleitende Fragen im Unterricht gestellt, Jungen fast 4x so häufig.
  • Die Mehrzahl der Vorschriften und Tadel bzw. Verweise richtet sich an Jungen.
  • Mädchen wird viel weniger erlaubt, spontan zu sprechen.
  • Vor allen Dingen Jungen wird erlaubt, den Unterricht zu unterbrechen.
  • Mädchen bekamen vor allen Dingen Kommentare dafür, dass sie hübsch (wohlgesittet), nett (sauber) und angemessen/gut im Zusammensein waren.
  • Jungen bekamen vor allen Dingen Kommentare für Qualitäten wie Geschwindigkeit, Kraft bzw. Stärke und Dinge, die messbar sind.

Ich finde die schwedischen Zahlen besonders vor dem Hintergrund spannend, dass wir es mit einem Land zu tun haben, dass sich mehr als jedes andere in Europa der Gleichstellung von Frau und Mann verschrieben hat. Sie sehen schon, hier sind dicke Bretter zu bohren.

Was könnten uns diese Zahlen noch sagen?

Durch unsere Vorannahmen über die Rolle des weiblichen und des männlichen Geschlechtes tragen wir immer wieder neu fleißig dazu bei, die Dinge so zu ordnen, wie es uns die allgegenwärtigen Geschlechtsrollenklischees nahe legen.
Damit wächst auch die Chance, dass eintritt, was wir unreflektiert herbeiführen.

Der Fundamentalismus dieser Rollenklischees sollte uns nicht egal sein. Es scheint mir lohnenswert, sich damit zu befassen, wie wir ihn aus unseren Köpfen und Herzen entlassen können. Und jetzt komme ich zu den Schätzen, die wir m.E. auf diesem Weg bergen können.

Wenn öffentlich über die Rolle von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft gesprochen wurde,

dann stand eine lange Zeit im Vordergrund, sich mit den Benachteiligungen von Frauen und Mädchen auseinander zusetzen. Dieses Thema spielt auch heute noch eine völlig berechtigte und wichtige Rolle.

Aber etwas wichtiges ist bei der Geschlechter-Debatte dazu gekommen: Die Einsicht nämlich, dass auch Männer mit ihrer Geschlechtsrollen zu kämpfen haben und keineswegs immer zu ihrem und dem Besten anderer.

Lange Zeit hatte sich der Eindruck verbreitet, Frauen und Mädchen hätten etwas nachzuholen, um endlich das zu erreichen, was bisher Männern vorbehalten war. Heute scheint die Frage in den Vordergrund zu rücken, ob denn die traditionelle Rolle, die so viele Männer für sich in Anspruch nehmen und die so viele Menschen für die erstrebenswerte Norm halten, noch zu den Anforderungen einer zukunftsfähigen modernen Gesellschaft passt.

Was Statistiken über die Lebenssituation von Männern offenbaren:

Wir sind längst in einer Situation angekommen, wo nicht mehr nur Frauen damit befasst sind, sich auf eine neue Art und Weise zu definieren und in der Welt zu bewegen. Auch Männer haben angefangen, ihren eigenen Weg zu gehen und einen kritischen Blick auf das zu werfen, was Statistiken über ihre Lebenssituation offenbaren:

- Schlechterer Gesundheitszustand:

  • deutlich höherer Tabak- und Alkoholkonsum, keine Früherkennung mit der Folge von Leberzirrhose und Lungenkrebs bei den 18 bis 59Jährigen
  • höchste Todesrate bei Herzinfarkten bei den 45 bis 65Jährigen
  • 50 bis 70 Prozent höhere Unfallrate bei Verkehrsunfällen aufgrund zu riskanten Fahrverhaltens
  • ungesunde Ernährung: 56% der Männer sind übergewichtig, nur 39% der Frauen, infolgedessen doppelt so hohes Risiko an Darmkrebs zu sterben, Gicht tritt 10 Mal häufiger auf als bei Frauen.
  • Die meisten Arbeitsunfälle gehen auf das Konto von Männern

- Geringere Lebenserwartung insgesamt
- Deutlich höhere Suizidrate
- Deutlich höhere Gewaltneigung, deutlich höheres Risiko, Opfer von Gewalt zu werden

Es scheint inzwischen durchgedrungen zu sein, dass der gesamte traditionelle Geschlechtervertrag der Revision bedarf. Nichts anderes drückt der Begriff des Gender Mainstreaming aus, den Sie heute immer wieder hören können.

So verstanden, lässt sich auch die ganze Kraft nutzen, die entsteht, wenn wir durch die Brille der Geschlechterthematik auf die Welt schauen. Wir haben auf einmal viele gute Ansatzpunkte, um wichtige Fragen zu stellen und gute Antworten für "Dinge" zu finden, die sowohl für die persönliche Entwicklung, als auch für uns alle in einer Gesellschaft immer wieder von zentraler Bedeutung sind: 

  • Wie gehen wir mit dem sogenannten Anderen um und wie mit den nicht respektierten Identitäten?
  • Wie können wir das vermeintlich Fremde in die eigene Persönlichkeit integrieren?
  • Und wie gehen wir mit Verschiedenheit und Wertevielfalt um?
  • Wie finden wir eine Balance angesichts ungezählter beruflicher und privater Anforderungen?
  • Auf welchem Niveau vollziehen wir ein zukunftsfähiges Leben und eine gelungene soziale Integration aller?

Diese Themen sind Ihnen natürlich wohlvertraut in Ihrem pädagogischen Alltag, wenn Sie Ihren Beitrag dafür leisten, dass Mädchen und Jungen für ein gelungenes Leben gerüstet sind. Wenn es also darum geht, die persönliche Stabilität aller zu stärken, Fremdenfeindlichkeit abzubauen, Sozialhilfekarrieren vorzubeugen, Gewalt und Kriminalität zu verhindern und soziale Integration zu stärken. All diese Kernthemen lassen sich aus der Perspektive der Geschlechtsrollenthematik noch einmal ganz neu bearbeiten.

Vorausgesetzt, Sie lassen sich aktiv darauf ein, vorschnellen Definitionen über Geschlechtszuschreibungen gezielt entgegenzuarbeiten,
 

  • um ein Gefühl für die eigene Kraft entdecken zu helfen, damit eine Reise in die richtige Richtung beginnen kann und das Handwerkszeug parat ist,
  • um sich aus den Zumutungen und Abgründen von Geschlechtsrollenklischees heraus entwickeln zu können.

Ich sehe bei diesem Thema - angesichts der Vielzahl empirisch vorgelegter schwerwiegender geschlechtsspezifischer Problemlagen - eine öffentliche Verantwortung, der wir uns nicht entziehen dürfen.

Wie das alles in Ihrem Arbeitsalltag denkbar ist und praktisch aussehen kann

Wie das alles in Ihrem Arbeitsalltag denkbar ist und praktisch aussehen kann, darüber soll heute gesprochen werden. Diese Fachtagung will damit anfangen zu thematisieren, was der Denkansatz der Geschlechtsrollenthematik oder die Methode des Gender Mainstreaming für einen Ertrag im pädagogischen Alltag bedeuten kann. Wir haben zu diesem Zweck eine ganze Reihe fachkundiger Menschen eingeladen, mit denen Sie - nach unserer Vorstellung - spannende Diskussionen führen können.
Vielleicht entwickelt sich aus dem kleinen Pflänzchen dieser Fachtagung ja eine prachtvolle Wiese neuer tragfähiger, kontinuierlicher und fächerübergreifender Arbeitsprojekte, die auch anderen Schulen zugänglich gemacht werden können. Das wäre wirklich wunderbar.

Ich hoffe, dass ich Sie noch ein bisschen neugieriger machen konnte, als Sie ohnehin schon waren und wünsche uns allen eine interessante Auseinandersetzung. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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